Im ersten Artikel dieser Serie habe ich aufgezeigt, dass ein Blick in die Ideengeschichte des Begriffs Raum uns dabei hilft zu verstehen, wie soziale Räume durch die Relation und die Interaktion von Objekten – Personen wie Gegenständen – geprägt und definiert werden. Dieser zweite Teil wird nun darstellen, wie wir diese Perspektive nutzen können, um die Entstehung und Entwicklung von dem, was wir umgangssprachlich als Räume bezeichnen, zu verstehen.
Dazu brauchen wir etwas Handfesteres und Konkreteres als nur ein diffuses Verständnis davon, dass Räume nicht als Containerräume objektiv existieren, sondern vielmehr sozial konstruiert werden und entsprechenden Dynamiken unterliegen. Hierzu bietet sich eine Herangehensweise an, wie sie Dieter Läpple in seinem 1991 publizierten Essay über den Raum formuliert: Er identifiziert vier Dimensionen des sozialen Raums, die uns einen direkten Zugang zu den Prozessen seiner Entstehung und seines Wandels bieten:
- Physisch-materielles Substrat
- Handlungs- und Interaktionsstrukturen
- Institutionalisiertes und normatives Regulationssystem
- Zeichen- und Symbolsystem
Dieses Raster ermöglicht es uns, so unterschiedliche Dinge wie eine Veranstaltung, ein Gebäude, eine Online-Plattform oder das Internet an sich als Räume zu interpretieren und auf der Grundlage derselben Begrifflichkeiten und Dynamiken zu diskutieren.
Physisch-materielles Substrat
Das physisch-materielle Substrat eines Raums bezeichnet diejenigen Gegenstände, Objekte und Artefakte, mit denen Menschen in einem Raum interagieren können. Angefangen von Wänden, Böden und Decken eines Gebäudes oder Zimmers über die Türen, Treppen und Aufzüge bis hin zu Stühlen, Rednerpulten und Hinweisschildern. Betrachtet man größere Räume lassen sich auch Straßen, Supermärkte oder Grenzzäune als Teil des physisch-materiellen Substrats interpretieren. Beispiele in digitalen Räumen sind entsprechend Links, ein Passwortschutz oder die Kommentarfunktion.
Das physisch-materielle Substrat spielt eine zentrale Rolle in der Ermöglichung von Verhaltensweisen. Es erlaubt uns bestimmte Aktionen, während es uns andere unmöglich macht, weil benötigte Hilfsmittel fehlen oder bestimmte Gebiete für uns unzugänglich sind. So lassen sich Türen verschließen oder Gruppen bei Facebook sind nur nach Freischaltung durch einen Moderator zugänglich.
Auch wenn man meinen könnte, dass vier Wände, eine Decke und ein Boden doch durchaus einen Raum definieren, beschreiben sie in diesem Begriffssystem nur ein Zimmer. Für einen sozialen Raum sind drei weitere Dimensionen vonnöten.
Interaktions- und Handlungsstrukturen
Das physisch-materielle Substrat bietet in einem Raum die unverzichtbare Grundlage für sich entwickelnde Interaktions- und Handlungsstrukturen. Damit lassen sich die spezifischen Formen beschreiben, in denen die Menschen innerhalb eines Raumes miteinander und mit diesem Raum interagieren: Welche Türen werden als Eingang oder als Ausgang genutzt? Versammelt sich eine große Gruppe im Zentrum des Raums oder zahlreiche kleine in seinen Ecken? Welche Wege nutzen die Menschen, um von einem Ort zum anderen zu gelangen? Betrachten Sie die Kunstwerke an den Wänden ehrfürchtig aus der Entfernung oder fassen sie sie sogar an?
Die Interaktions- und Handlungsstrukturen spiegeln demnach wider, was auf der Grundlage des physisch-materiellen Substrats tatsächlich passiert. Es ist durchaus möglich, dass Zäune überklettert, Schulungsräume für das Mittagessen genutzt und das @-Zeichen bei Twitter verwendet wird, um einzelne Personen direkt anzusprechen – auch wenn all dies nicht innerhalb des physisch-materiellen Substrats angelegt ist.
Institutionalisiertes und normatives Regulationssystem
Die Interaktions- und Handlungsstrukturen sind eng verbunden mit der dritten Dimension sozialer Räume, dem institutionalisierten und normativen Regelungssystem. Dieses beschränkt sich nun nicht mehr darauf, konkretes Handeln zu beobachten, sondern hinterfragt die Regeln und Erwartungen, die diesem Handeln zugrunde liegen: Wird sich geduzt oder gesiezt? Welche Kleidung gilt als angemessen? Welche Sprache wird gesprochen? Welcher Zeitplan strukturiert die Interaktionen? Welche Regeln werden durch konkrete Hinweisschilder kommuniziert?
Dabei können diese Regeln auf der einen Seite explizit schriftlich fixiert und durch eine Autorität sanktioniert werden – wie beispielsweise eine Hausordnung oder auch schlicht und einfach das Gesetz. Auf der anderen Seite können sie aber auch implizit etabliert und für die Beteiligten selbstverständlich akzeptiert sein, wie beispielsweise die grammatikalischen Regeln einer Sprache, die in einem Land üblichen Höflichkeitsformen oder die Frage nach der angemessenen Kleidung.
Die Brechung einzelner allgemein akzeptierten Regeln und Erwartungen kann dabei eine besondere Form von Räumen etablieren, die Michel Foucault als Heterotopien bezeichnet – also Abweichungen von der “normalen” sozialen Ordnung. Ein Barcamp wie das stARTcamp beispielsweise zieht einen großen Teil seines Reizes daraus, dass es das übliche Konferenz-Format aufbricht und eine informelle Atmosphäre mit entsprechender Kleidung und Umgangsformen etabliert.
Zeichen- & Symbolsystem
Die vierte und letzte Dimension schließlich beschreibt das Zeichen- und Symbolsystem eines sozialen Raums. Es bezieht sich in erster Linie auf die Frage, welche Bedeutung die Akteure dem Geschehen, den Regeln und dem Substrat eines sozialen Raums zumessen und welche Symbole und Zeichen sie verwenden.
Dies beginnt bei leicht zu beobachtenden Aspekten wie der Bedeutung, die spezielle Begriffe in einem sozialen Raum annehmen: So verbinden Barcamper mit dem Begriff der Sessionplanung eine bestimmte Veranstaltungsform, die zumeist am Beginn eines Barcamp-Tages steht und in der die unterschiedlichen angebotenen Seminare und Workshops kurz vorgestellt und auf dem Sessionplan – ein weiterer solcher Begriff – verteilt werden. Bei einer klassischen Fachkonkferenz macht dieser Begriff keinen Sinn und würde Irritationen auslösen. Auf einem Barcamp wiederum würden solche Irritationen wiederum durch ein Abweichen von dem etablierten Format der Sessionplanung ausgelöst. Hier zeigt sich dann auch die enge Verbindung zwischen Zeichen- und Symbolsystem und den oben skizzierten Regeln und Erwartungen.
Eine weiterer Aspekt dieser Dimension ist die Bedeutung, die Personen dem Raum an sich oder einzelnen Elementen darin zumessen. So etabliert beispielsweise ein Rednerpult viel stärker eine Vortragssituation als ein Stuhlkreis, und bunte, handgeschriebene Schilder deuten auf eine informell-kreative Atmosphäre hin. Gleichzeitig kann auch der Raum an sich für die Menschen in ihm unterschiedliche Bedeutung annehmen: Für die Teilgeber ist ein stARTcamp eine Möglichkeit, den eigenen Horizont wie das persönliche Netzwerk zu erweitern, für einen Journalisten mag es ein Auftrag sein wie die Jahresversammlung des Kaninchenzüchtervereins und für die Reinigungskraft ein weiterer Schmutzproduzent.
Ein Raster, um soziale Räume zu verstehen
Sozialen Raum aus diesen vier Dimensionen zu betrachten, hilft, sich der tatsächlichen Prozesse bewusst zu werden, die sich im Rahmen von Veranstaltungen, in einer öffentlichen Einrichtung oder auf einer Online-Plattform abspielen. Dabei ist auch deutlich geworden, dass sich auf der Grundlage desselben physisch-materiellen Substrats unterschiedliche soziale Räume etablieren können. So manifestiert sich der Raum stARTcamp ruhr york parallel zu dem Raum Dortmunder U und dem Raum der Veranstaltung “Sommer im U”. Alle existieren gleichzeitig am selben Ort und unterscheiden sich doch deutlich in den anderen drei Dimensionen. Sie lassen sich jedoch mit denselben Begrifflichkeiten analysieren und verstehen.
Im dritten Teil dieser Serie werde ich darstellen, wie sich soziale Räume auf der Grundlage solcher Überlegungen aktiv gestalten und verändern lassen. Dazu gilt es zuerst, die möglichen Wechselwirkungen zwischen den vier Dimensionen herauszustellen, um im Anschluss zu überlegen, welche Aspekte sich von außen bewusst steuern und gestalten lassen und wie sich dies auf die anderen Dimensionen auswirkt.
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