“Ich mache Schwellenpädagogik. Ich überlege mir, was ich mache, während ich über die Türschwelle trete.”
Dieser sehr überstrapazierte “Witz” bringt die Spannung, in der sich jeder Lehrende bewegt, auf den Punkt: Wie genau bereite ich meinen Unterricht vor, wenn ich doch eh weiß, dass diese Pläne nur im Ausnahmefall funktionieren?
In seinem Buch Agile Hochschuldidaktik widmet sich der Schweizer Hochschuldidaktiker Christof Arn genau diesem Dilemma. Für ihn ist dabei die Improvisation in der konkreten Situation nicht die Abweichung, sondern der Normalfall. Damit eröffnet er vollkommen neue Möglichkeiten der flexiblen und lernerorientierten Didaktik.
Pläne bieten Sicherheit für Lehrende
In Seminaren und Fortbildungen zur Hochschuldidaktik – aber auch in der Lehrerbildung – steht meist die Plandidaktik im Mittelpunkt. Aus der Modulbeschreibung oder dem Lehrplan werden Grobziele abgleitet. Daraus werden Feinziele formuliert, die dann den “didaktisch reduzierten” Inhalt bestimmen. Dieser wird mit einer Methodik kombiniert und dann unterrichtet.
Die Seminarsitzung selbst ist dann nur noch die Aufführung eines vorgeplanten Stücks. Dieses Stück sollte zwar im Voraus auf die Lerngruppe angepasst werden, ist danach aber immun gegenüber der konkreten Lehr-Lern-Situation. Es gibt stattdessen dem Lehrenden Sicherheit und hält die Illusion der Kontrolle über den Lernprozess aufrecht.
Egal wie interaktiv oder aktivierend die Lehre geplant ist, sie bleibt zentriert auf die Lehrenden. Sie ist – in ihrer Grundidee – nicht in der Lage, auf konkrete Schüler in konkreten Situationen zu reagieren. Sie hat einen Plan, der durchzuführen ist und jede Abweichung gilt als Störung, die es zu antizipieren und zu vermeiden gilt.
Arn sieht sein Buch als bewussten Gegenpol zu dieser Idee der Plandidaktik. Er fordert nicht, die komplette Didaktik entsprechend umzustellen. Ja, er behauptet nicht einmal, dass das überhaupt wünschenswert oder möglich wäre. Sein Ziel ist es vielmehr, ein Spektrum zu eröffnen, in dem sich Lehrende theoretisch begründet bewegen können.
Damit greift er natürlich auch die Praxis auf. Denn welche Seminarsitzung und welche Unterrichtsstunde folgt denn tatsächlich einem minutiösen Plan? Doch gerade die Improvisation und das spontane Reagieren auf die Lernenden werden in der Didaktik kaum angesprochen. Dabei stehen Sie im Mittelpunkt der alltäglichen Arbeit.
Arn positioniert sich damit sehr schön zwischen einer frontalen und einer rein konstruktivistischen Didaktik und berücksichtigt, dass unterschiedliche Situation jeweils ihre eigene angemessene Form der Didaktik haben. Aus meiner Sicht lässt er sich damit auch als differenzierte Antwort auf Autor_innen wie Hirsch lesen, die die Prämisse konstruktivistischer Didaktik scharf kritisieren.
Lehre als Kooperation und Performance
Doch Arn zeigt nicht nur, wovon sich agile Didaktik abgrenzt. Er formuliert auch theoretische Argumente und praktische Hinweise, was diese Art von Didaktik ausmacht.
Die leitende Metapher ist dabei nicht der Vortrag oder die Aufführung vor einem staunenden Publikum. Er orientiert sich vielmehr an dem alltäglichen “kannst du mir das mal kurz erklären?”. Dabei steht die unmittelbare Interaktion mit den Lernenden im Zentrum. Es gibt keinen festen oder minutengenauen Plan, sondern grobe Zielpunkte und einzelne strukturierende Ideen.
Besonders deutlich wird diese Idee der Didaktik, wenn Arn sich mit den verschiedenen möglichen Bezeichnungen dafür beschäftigt: Der Begriff der agilen Didaktik rückt in Anlehnung an das entsprechende Paradigma der Software-Entwicklung die Flexibilität des Prozesses und das Fehlen eines Masterplans in den Blick. Die Bezeichnung Co-Didaktik würde hingegen die ebenfalls relevante Kooperation zwischen Lehrenden und Lernenden bei der Gestaltung des Lernprozesses betonen.
Mir persönlich gefällt ja die Formulierung Performance-Didaktik am besten, die das Lehren in die Nähe der improvisierten Kunst rückt. Gerade aus dem Improvisationstheater lassen sich dabei zahlreiche Ideen und Konzepte übernehmen, aber das ist ein Thema für einen anderen Artikel
Arn hat sich aber nun für den Begriff der Agilität entschieden und das ist durchaus passend. Er stellt sich weder auf die Seite, die in Lehrenden den “sage on the stage” sieht noch präferiert er den “guide on the side”. Vielmehr fordert er einen ständigen Wechsel zwischen unterschiedlichen Methoden und didaktischen Prinzipien. Je nachdem, was in der konkreten Situation angemessen erscheint.
Wenn sich also während einer Gruppenarbeit abzeichnet, dass den Studierenden wichtige Informationen fehlen, können diese spontan über eine Lesephase oder einen Impulsvortrag vermittelt werden. Lehrende greifen dabei ständig auf einen Pool aus Methoden, Übungen und Themen zurück, die nach Bedarf eingesetzt, angepasst und über den Haufen geworfen werden. Nicht als “Abweichung vom Plan”, sondern als grundlegendes didaktisches Prinzip.
Drei wichtige Bausteine agiler Hochschuldidaktik
Wie jede andere Lehr-Lern-Form fällt auch die agile Didaktik nicht vom Himmel. Lernende wie Lehrende müssen sie lernen und einüben. Sie widerspricht in zentralen Punkten der üblichen Lehrweise und beide Seiten brauchen Zeit – und idealerweise Begleitung – für das notwendige Umlernen.
Ein erster Schritt dazu ist, sich zentrale Bausteine der agilen Didaktik bewusst zu machen und entsprechende Schwerpunkte zu legen. Die für mich wichtigsten Aspekte, die Arn in seinem Buch anspricht, sind dabei ein “Ziel, das zieht”, das Abgeben von Kontrolle und eine veränderte Art der Vorbereitung.
“Ein Ziel, das zieht”
In der agilen Didaktik gibt es keinen detaillierten Ablaufplan für eine Veranstaltung und die Studierenden sollen sich in hohem Maße selbst einbringen. Damit das funktionieren kann und die Veranstaltung nicht ausfasert, braucht es einen Kern, der das Ganze zusammenhält und allen Beteiligten die Richtung der Bewegung vorgibt.
Für Arn ist es das “Ziel, das zieht”, welches diese Funktion übernehmen muss. Es trägt die gesamte Veranstaltung, indem es Lehrenden wie Lernenden eine gemeinsame Richtung vorgibt, an der sich alle Aktivitäten orientieren. Es muss dabei in erster Linie die Studierenden interessieren und ihnen die Möglichkeit geben, sich selbst und ihre Erfahrungen einzubringen.
Die Zwischenschritte und “Feinziele” ergeben sich dann nicht aus einer detaillierten Vorausplanung, sondern vielmehr aus der Interaktion mit den Studierenden. Sie greifen deren Interessen auf und berücksichtigen ganz spezielle Lernbedarfe, die die Studierenden wie die Lehrenden in der Gruppe erkennen.
In dieser Form der Didaktik ist es auch vollkommen irrelevant, ob Grob- und Feinziele S.M.A.R.T. im Sinne des Projektmanagements sind – also spezifisch, messbar, akzeptiert, realisierbar und terminiert. Sie bieten auch keine Checkliste, die einfach nur abgehakt werden muss. Sie sollten hingegen an der konkreten Situation orientiert, auf die Praxis bezogen und an erster Stelle sinnstiftend sein.
Ist ein solches Kernziel erstmal etabliert, können sich Lernende wie Lehrende jederzeit darauf berufen. Es wird damit gleichzeitig zur Leitlinie und Kontrollinstanz, die dabei hilft, jeden Schritt auf seine Ausrichtung auf das Ziel abzuklopfen. So gewinnt die Veranstaltung eine gerichtete Dynamik und es ist sichergestellt, dass zentrale Lernziele erreicht werden.
Entspannte und offene Haltung ohne vollständige Kontrolle
Der für die Lehrenden vermutlich schwierigste Aspekt ist, die gefühlte Kontrolle über den Lernprozess abzugeben. Doch die war – wenn man mal ehrlich ist – ohnehin nie da: Was meine Vorträge und die Diskussionen tatsächlich an Lernen ermöglicht haben, ist vollkommen offen. Ist es da nicht besser, zu akzeptieren, dass das Lernen nur bei den Studierenden stattfindet und die Veranstaltungen gleich darauf auszurichten?
Die Ungewissheit, die sich aus der agilen Herangehensweise ergibt, produziert nämlich wichtige Lerngelegenheiten – nicht nur für die Studierenden, sondern gerade auch für die Lehrenden. Es können neue Ideen entstehen und viele Dinge einfach mal ausprobiert werden. Nebenbei lernen die Studierenden auch noch, ihren eigenen Lernprozess aktiv zu gestalten. Ist das nicht eigentlich schon immer der Sinn der Sache gewesen?
Die agile Didaktik lebt also von einer offenen und den Lernenden gegenüber positiv gestimmten Haltung. Als Lehrender brauche ich auf der einen Seite das Selbstvertrauen, mit jeder Situation, die in einer derart dynamischen Umgebung entstehen kann, umgehen zu können. Außerdem brauche ich das Selbstbewusstsein, mich nicht von den Studierenden abgrenzen oder mich über sie erheben zu müssen.
Auf diese Weise kann ich eine Offenheit ermöglichen und mich auf die entstehenden Situationen einlassen. Zudem erlaubt mir die Haltung, den notwendigen Kontakt zu den Studierenden aufzunehmen. So kann ich nicht nur explizit formulierte Bedarfe aufgreifen, sondern auch solche erkennen, denen sich die Studierenden selbst nicht bewusst sind.
Vorbereitung: Reaktion auf Studierende und Aufbau des Methodenpools
Auch wenn Arn es in seinem Buch nur kurz thematisiert, ist ein wichtiger Aspekt seiner Überlegungen die veränderte Vorbereitung. In der agilen Didaktik geht es nicht mehr darum, detaillierte Pläne oder Foliensets für jede Veranstaltung zu gestalten. Es geht ohnehin viel weniger darum, einzelne Termine vorzubereiten, sondern vielmehr das Thema des gesamten Semesters so aufzubereiten, dass es flexibel und vielfältig in der Lehre eingesetzt werden kann.
Die agile Didaktik verlangt von den Lehrenden ein hohes Maß an Interaktion mit den Studierenden – nicht nur in den Präsenzveranstaltungen, sondern auch zwischen den Terminen. Hier bin ich als Lehrender als Berater und Coach gefragt, der Lernprozesse begleitet und anregt. Auch muss ich auf die Anregungen und Wünsche der Studierenden eingehen und entsprechende Übungen und Materialien vorbereiten.
Das führt dazu, dass ich mir im Laufe der Vorbereitung und des Semesters einen Pool an Methoden und Materialien aufbauen und kontinuierlich überarbeiten muss. Soweit nichts Neues, der Einsatz dieser Methoden wird halt nur nicht minutiös im Voraus geplant. Stattdessen fallen diese Entscheidungen spontan in der Lernsituation. Dabei können Methoden wie geplant eingesetzt, spontan angepasst oder auch vollkommen verworfen werden.
Dieses hohe Maß an Improvisation während der Veranstaltung nimmt auch den Druck aus der Vorbereitung. So zitiert Arn die Antwort von Tribelhorn auf die Frage nach dem richtigen Maß an Vorbereitung: “Man ist ausreichend vorbereitet, sobald man anfangen kann, zu unterrichten.”
Ab heute nur noch agil?
Heißt das jetzt, dass sämtlicher Unterricht zumindest an Hochschulen nur noch agil gestaltet werden sollte? Nein. Doch die Agilität stellt der etablierten Plandidaktik ein alternatives Paradigma gegenüber und fordert sie damit heraus. Es gilt zu hinterfragen, ob und wann minutiöse Pläne den Lernenden(!) tatsächlich dabei helfen, sich komplizierte Inhalte anzueignen und komplexe Probleme zu lösen.
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